Nun geht es wieder los. Vor dem Fenster fallen die Blätter vom Baum und sagen Schluss mit Sommerschlaf. Sie fallen groß, braun und leblos, knattern dann über den Beton und machen ein Geräusch als würde man in eine Proustsche Madeleine beißen: Erinnerung, Zeitläufe, Menschsein.

Diese Zeit im Jahr hat an sich, dass allerorten wieder neueste Kulturprodukte vorgestellt werden, der Veranstaltungsplan nimmt Fahrt auf, die Leute werden grundaufgeregt, und man möchte das alles eigentlich noch ein bisschen vor sich herschieben.

Zwar hat man sie schon konsumiert, die ersten Herbstausstellungen, den Internet-Film von Werner Herzog, den Christian-Kracht-Roman. Nur sagen möchte man lieber noch nichts darüber. So viel vielleicht: Auch ein Film über das Machismo-verseuchte Internet sollte nicht von 50 Männerexperten erzählt werden und 2 Frauen, die Opfer sind.

So vor den ersten anstehenden Arbeiten den Tag vertrödelnd, ziehe ich mich in einen Winkel des Gartens zurück, wo mich keiner auf der Welt sehen kann, der erste leise Regen des Herbstes kullert in kleinen Tropfen die Nasenspitze herunter, und ich denke wie das Camouflieren und Verbergen nach den Jahren des permanenten Net-Workings und dauernder Verfügbarkeit ein großer Wunsch und immer häufiger auch zur Praxis geworden ist. Rückzug ins Physische, ins Private, Paradoxe, Hauptsache es fängt mit P an und DRRRRRRRING, es reißt mich schrill klingelnd aus dem Nickerchen.

Den über den Sommer gewachsenen Schnauzbart in alle Richtungen zwirbelnd, nehme ich ab. Bonny am Apparat, steht am Potsdamer Platz und sucht die Revolution. Blockupy soll sein. Auch von hier im Gartenversteck höre ich den Hubschrauber schrauben, aber unten, ruft die Telefonstimme verzweifelt: Alles leer! Dezentral sei der Protest dieses Mal organisiert. Offenbar so sehr, dass er gar nicht mehr zu finden ist. Hopsen wohl von einem zum anderen Ort, um kurze Sitzblockaden einzulegen. Aber sie wollte sich doch endlich mal wieder zeigen, ruft sie immer verzweifelter ins Medium.

„Schau Bonny“, beginne ich langsam und neunmalklug, „Öffentlichkeit ist ja heute eigentlich so ein Wort wie Prominenter, Fernbedienung, Gassenhauer oder Füllfederhalter. Zwar noch halbwegs in Gebrauch, klingt es jedoch wie aus einer Welt, die immer mehr verschwindet, sich nun nachgerade blitzschnell im Totaltransparenten auflöst." Vor allem die so genannte Gegenöffentlichkeit kommt mir insgeheim in den Sinn, gehöre doch mittlerweile eigentlich ganz Pegida und dem Überwachungsdiskurs. Die Gegenöffentlichkeit gibt es eigentlich nur noch im Darknet und in rechtsradikalen Zellen in Ostdeutschland.

„Na jaaaaaaa“, sagt Bonny, die viel schlauer ist als ich und meine kleinen Gedanken sowieso vorher weiß.

„Pass auf“, komme ich im Gartenstuhl nun erst recht in Schwung, „die Gegenöffentlichkeit gehört heute Leuten wie Adrian Ursache. Ursache war 1998 der schönste Mann Deutschlands. Mister-Germany heiratete wenig später auch eine Miss Germany. Und geriet dann auf Abwege. Als aktiver „Reichsbürger“ hatte er schon vor längerer Zeit sein kleines Grundstück in Sachsen-Anhalt zum „Königreich Ur“ erklärt. Das Grundgesetz erkennt er nicht an. Reichsbürger gehen davon aus, dass das Deutsche Reich in den Grenzen von 1937 noch existiert. Steuern, Führerschein, die gesamte Bundesrepublik Deutschland gehen ihn wenig an. Bei einer Zwangsräumung vor zehn Tagen allerdings ging es ihm an den Kragen. Es kam zum Schusswechsel mit dem SEK, bei dem Ursache schwer und drei Beamte leicht verletzt wurden, einer von ihnen wurde gebissen. 13 Reichsbürger hatten sich ihm zur Hilfe auf dem Gelände versammelt. Sie bewarfen die angemeldeten Behördenvertreter mit Pflastersteinen. Dieser Ursache, ein offenkundig schwer verwirrter, aber durchaus eloquenter Mensch, hatte bereits seit langem alle anders Meinenden, die an sein Gatter klopften, sie mit dem Handy angriffslustig abfilmend als Ursache angeschrien. „Sie sind doch Ursache, ich kenne sie“, sagt er dort immerfort. Jeder war am Ende für ihn Ursache geworden, er wollte auch seinen eigenen Namen nicht mehr anerkennen.“

„Na jaaaaaaaaa“, sagt Bonny. „Was willst du mir sagen? Hast du von der Appelbaum-Geschichte gehört? Das wird dir gut in den Kram passen.“

„Appelbaum? Der Whistleblower? Kenne ich, der wollte vor einiger Zeit Künstler werden.“

„Na“, und sie schnauft ins Mobile, „er soll in Berlin Mitstreiterinnen sexuell missbraucht haben. Das kostete den Internetaktivisten seinen Job als Chef bei Tor, dem Zugangsportal des Darknet. Seine Schuld wurde bisher allerdings noch gar nicht bewiesen. In der ZEIT konnte man eine lange Geschichte darüber lesen, und ich habe im Gedächtnis behalten, dass bis heute kein Kriminalbeamter oder Staatsanwalt gegen ihn ermittelt. Was wohl daran liegt, dass seine öffentlichen Anklägerinnen den Behörden nicht trauen. Dieses System , schrieb eine von ihnen, die sich als Anarchistin bezeichnet, setze nur die Gewalt fort, für Ankläger wie für Angeklagte. Sie wünschte sich, Appelbaum gehe ins Exil nach Alaska oder Sibirien. Mit dem Rechtssystem wollte sie einfach überhaupt nichts zu tun haben. Wie er selbst interessanterweise auch.“

„Siehst du, sie erkennen das System nicht an! Auch Google, Apple und Facebook wollen ja eigentlich eigene Inselstaaten mit eigenen Rechten sein. Die jagen einem ganz eigenen Zauber hinterher. Werner Herzog erzählt mit seiner immer wahnsinnigeren Stimme davon. Kein Interesse mehr an grunddemokratischer Öffentlichkeit alter Ordnung. Und deine Mitstreiter findest du auch nicht mehr. Komm zu mir in den Garten, hier ist es gut.“

„Du Apfelmann! Ich vertrau deinem Garten nicht. Und auch nicht deiner Biedermeier-Version von dir. Hast du schon den neuen Christian Kracht gelesen?“

Sie schien mittlerweile wirklich jede Hoffnung verloren zu haben, der Revolution heute noch habhaft zu werden. Meine Pfeife fertig geschmaucht, erhebe ich mich extra langsam und bedächtig. Ein noch buntes Laub fällt mir auf den abgeschabten Jägerhut. Ich stecke es mir ans Revers.

„Bist du noch dran?“

„Ja doch. Der verdammte Kracht also. Na gut. Kracht hat uns ja schon lange verlassen. Er hatte uns so viel zu erzählen über now und vor allem never. Aber vor allem eben auch NOW. Und dann hat er angefangen, diese preziösen History-Fake-Romane zu schreiben, und seitdem sind wir ihm alle ein bisschen böse. Ich war auch wieder böse, als ich mit dem Lesen von „Die Toten“ anfing, und zum Schluss wollte ich, dass es niemals endet. Es glänzte so sehr. Golden und nostalgisch. Und war dabei noch komisch! So wie der Schriftsteller selbst seit vielen Jahren um die ganze Welt flüchtet, scheinen seine Geschichten aus der Gegenwart zu fliehen. Dieses Mal in die 30er Jahre, Japan, Berlin, LA, ein seltsamer ältlicher Schweizer erfindet die Nouvelle Vague in Tokio, Charlie Chaplin, ach. Ich glaube, soweit sie auch weg scheinen, diese Bücher handeln immer davon, ob es vor der Massenkultur mal ein Glück gegeben hat, und wann es mit der großen Leere begann.“

„Ach Timo, du Trottel, magst du ein Eis?“

„Oh ja, das letzte Eis des Sommers. Lass es uns in der Öffentlichkeit einnehmen.“

TIMO FELDHAUS ist Autor und lebt in Berlin.

In der vorigen Kolumne ging es um Frank Ocean .

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