Es war einmal auf der Insel Samos
Es galt die Ausstellung der Künstlerin Aleksandra Domanović auf einer griechischen Insel zu besuchen. Das versprach gute Kunst und ein bisschen Urlaub. Doch plötzlich kippte etwas, für den Spike-Redakteur begann im August eine neue Zeitrechnung, die noch lange wirken wird.
Es ist die Zeit des Jahres, in der Leute wie wir sich auf den Weg machen. Die Computer schließen, die Augen öffnen, die Hauptwohnsitze für kurze Zeit von Norden gen Süden in Richtung Sonne verlassen. In Ernst Gombrichs „Eine kurze Weltgeschichte“, die Leute wie wir unseren Kindern und uns selbst am Abend am Strand vorlesen, steht: Niemand erzählt schöner als das Meer vom „Es war einmal“.
Als das Hotel Marina Lučica 1971 eröffnete, war es eine touristische Sensation. Der modernistische Bau passte sich elegant in die abschüssige Felslandschaft der Küstenregion Kroatiens, gesäumt von Kiefernwäldern, die bis vor das türkisfarbene Meer standen. In der Abgeschiedenheit Dalmatiens suchte man nach Erholung, das Marina Lučica verfügte dazu über außergewöhnliche Sportgelegenheiten, 700 Betten und einen Strand mit Blick auf Primošten. Es war das luxuriöseste Hotel an der Adria und das erste Nackthotel in Jugoslawien. Die Besucher spielten unverhüllt mit fast lebensgroßen Figuren Freiluft-Schach.
Heute, auf der griechischen Insel Samos, deren Hafen Pytagorian der älteste des Mittelmeers sein soll, blinkt von dem gleichnamigen Art Space wieder der Name des Hotels. Die Künstlerin Aleksandra Domanović hat den Leuchtkasten oben anbringen und daneben ein monumentales Schachbrett bauen lassen. Durch die Panoramafenster der Kunstinstitution sieht man die Berge des türkischen Festlands. Die kürzeste Distanz über Wasser ist 1430 Meter, täglich legen Flüchtlingsboote von dort ab. Ihr Ziel ist Samos.
_______INSERT_______
_______INSERT_______
Gegründet hat den Art Space Pythagorion - der ebenfalls ein umgebautes Strandhotel aus den 70er Jahren ist - vor vier Jahren die Schwarz Foundation der Mäzenin Chiona Xanthopoulou-Schwarz. Das Kapital dazu kommt aus dem Privatvermögen, die Familie ihres Mannes Kurt Schwarz gehört zu den reichsten Familien Deutschlands. Vor fast 40 Jahren kam die gebürtige Athenerin erstmals nach Samos, damals bat sie ihre Mutter, ihr zum Examen ein Häuschen auf der Insel zu kaufen. Ein Tag nach der Eröffnung gibt es einen Roundtable, an dem neben der Kuratorin Susanne Pfeffer auch Carolyn Christov-Bakargiev teilnimmt. „Geschichte existiert nicht“, ruft die Verflüssigungstheoretikerin in den Raum. Etwas später meldet sich Chiona Schwarz zu Wort und widerspricht. Geschichte gäbe es sehr wohl, und es gelte sogar sie selbst zu gestalten.
_______INSERT_______
_______INSERT_______
In der Mitte der durch am Boden aufgestellte Topfpflanzen angedeuteten Lobbysituation, die Domanović im Hauptraum des Ausstellungsraums arrangiert hat und in dem das Gespräch stattfindet, steht ein Kasten, in dem kleine Broschüren zum Mitnehmen ausliegen, in der die Künstlerin gemeinsam mit einem Journalisten die Geschichte des Hotels Marina Lučica noch einmal erzählt, das hier Modell steht für die Architektur, Kultur, den Tourismus, die Ökonomie und den gesamten Staat Jugoslawiens, der sich auflöste. Von der Lobby aus führen Wege in kleinere Räume, wo Domanović drei Videos zeigt. In „Turbo Sculpture“ etwa sieht man Denkmäler, die nach den 90er-Jahren zu Ehren westlicher Prominenter im ehemaligen Jugoslawien entstanden. Skulpturen von Johnny Depp und Tupac Shakur stehen dort im öffentlichen Raum herum.
_______INSERT_______
Domanović ist in Serbien geboren und in Slowenien aufgewachsen, hat in Wien studiert und lebt seit vielen Jahren in Berlin. Als sie als 9-jährige im August 1990 Urlaub im Hotel machte, waren die Tourismuszahlen so hoch wie noch nie zuvor und nie wieder danach. Kurz vor Ausbruch des Bürgerkriegs verbrachte sie einen Sommer mit ihrer Familie in dem Hotel, weniger als zwei Jahre nach ihrem Aufenthalt war es zu einem Rekrutierungszentrum für kroatische Soldaten umfunktioniert worden und diente während der Jugoslawienkriege als Unterkunft für Flüchtlinge. Heute ist es eine Ruine.
Darüber, dass es seit dem Ende Jugoslawiens und den darauffolgenden Bürgerkriegen plötzlich wieder vergleichbar große Flüchtlingsbewegungen in Europa gibt, wird erst ein paar Wochen später zu Reden begonnen. Noch ein paar Wochen später in der Berliner Volksbühne sprechen der italienische Semiologe und Aktivist „Bifo" und der kroatische Philosoph Srećko Horvat darüber, dass Jugoslawien auch deshalb kollabierte, weil Sparpolitik und Privatisierungszwang dem Nationalismus so einen enormen Auftrieb gaben, und das genau diese Ausgangslage plötzlich wieder in vielen europäischen Staaten Angst vor dem aufstrebendem Faschismus macht.
Im August sind diese Loops der Geschichte noch nicht offensichtlich, da hängen von Domanović verzerrte und verpoppte Titosgemälde an den Wänden der Institution und erzählen davon, dass etwas vorbei und manches nie vorbei ist. Während wir im Auto die Straßen Samos’ umfahren, begegnen uns immer mehr Flüchtlinge, die von dem Teil der Insel, wo sie ankommen, zu Fuß ans andere Ende laufen, um die Fähre nach Athen zu besteigen. Oft wissen sie den Weg nicht, manchmal wissen sie nicht einmal, auf welcher Insel sie gerade sind.
An einem kleinen Strand trinken wir Biere, der Künstlerarchitekt Andreas Angelidakis, dessen kleiner Hund Lupo der Star dieser Veranstaltung ist, erzählt, dass es auf Samos eine lange Tradition des Balkan-Tourismus gibt. Sein Freund, der Künstler Angelo Plessas, berichtet von seinem Militärdienst auf der Insel. Samos ist nicht Mykonos oder Rhodos. Auf Samos würdest du keinen Münchener Entrepreneur erwarten, es gibt hier keine VIP-Bereiche, die von Audi gesponsert werden.
_______INSERT_______
Am nächsten Tag bei einem Ausflug auf die nicht weit entfernte Insel Patmos, dessen weiß getünchte Altstadt in der Sonne leuchtet wie ein iPhone-Display und auf der Johannes die Apokalypse schrieb, bemerken wir bereits die Sehnsucht nach dem viel weniger romantischen Samos. Eine SMS geht ein aus Hydra, wo Freunde Boarderline-Tourismus mit einem I-Tüpfelchen Sanftem Tourismus machen, der gut für die Seele und die Natur ist. Paula Schwarz, die Tochter von Chiona, erzählt von etwas, das sie Impact-Tourismus nennt, den sie selbst betreibt. Sie fährt mit einer Experten-Mischung aus NGO-Reräsentanten, Entrepreneurs und auch Künstlern auf einem so genannten StartUpBoat von Insel zu Insel und versucht schnelle Lösungen mit und für Refugees im jeweiligen Anlaufland zu finden. Ihre Freunde arbeiten an der Entwicklung einer Online-Universität, die besonders Flüchtlingen als Plattform für kostenlose akademische Bildung dienen soll.
An dem Hafen, wo die Schiffe aufs europäische Festland ablegen, hat ein Vater sein Kind verloren. Er weiß nicht, ob es auf einem der Boote nach Athen ist, oder ob es hier zwischen den Menschen und dem Müll umherläuft, und er weint, und er schreit, und er wird es nicht mehr finden.
Es kommt nicht mit Wucht, eher zieht es sich langsam zusammen wie eine Strömung, aus deren Sog man froh ist sich nicht mehr befreien zu können.
Auf Samos deutet sich etwas an, was erst ein paar Tage und Wochen später als ganzes Bild erkennbar wird. In diesen Tagen häufen sich im personalisierten Facebook-Stream die politischen Nachrichten, die Freunde wollen ihre Wörter und Links zu Handlungen formen. Es ist heiß auf Samos, doch der Kopf wird von Tag zu Tag klarer.
Wo wir leben, gab es lange kein emphatisches, positives Konzept von Zukunft. Nur Kapitalismus gleich Fortschritt gleich Beschleunigung. Beim Frühstück sitzen die Kuratorinnen Chus Martinez und Filippa Ramos mit der Künstlerin Julieta Aranda und reden über den Niedergang des Adorno-Denkens und das Ende der Dialektik. Ihre Ideen finden leicht Anschluss an die der Akzelerationisten, die permanent davon reden, dass die Gegenwart erst mit Blick auf die Zukunft wirklich wird. Von der Vergangenheit wollen auch sie nichts wissen. Wenn ich jetzt auf die Zeit in Samos blicke, scheint die Wirklichkeit plötzlich wirklich viel schneller abzulaufen.
Mit Oliver Laric stürze ich mich bei Nacht ins Meer. Um uns Beach Bodys, Sweet Wine und unter Wasser Gedanken, die sich später in Berlin plötzlich in helfende Handlungen übertragen lassen. Hier wird etwas geboren, was kaum mehr denkbar war: Seit Jahren schon hat man die abstrakte Idee, dass man politisch aktiv sein, etwas Kleines gegen das große Elend der Welt tun könnte. Später merkte man, was einfach und debiler nicht klingen könnte, nämlich dass dies sogar zwischen zwei Ausstellungseröffnungen passt.
Rund 700 Flüchtlinge stranden auf Samos täglich, und als wir schon weg waren, kommen noch viel mehr. Wir besteigen ein kleines Flugzeug, sie aber kommen nicht weiter, weil die Boote nach Athen von Touristen vorgebucht sind. Von oben sind die Flüchtenden nicht zu sehen. Erst wieder, als wir in Deutschland landen, da sind sie in den Nachrichten, auf den Bahnhöfen, auf den Straßen, in unseren Wohnungen. In magischer trauriger Euphorie folgen die biblischen Bilder und die echten Menschen.
_______INSERT_______
Unter dem Eindruck der Wirklichkeit scheint es nicht mehr möglich über Dominique Gonzalez-Foersters „Splendid Hotel“, Alighiero Boettis „One Hotel“ in Kabul, Robert Smithsons „Hotel Palenque“ oder Wes Andersons „Grand Budapest Hotel“ nachzudenken. Vergleiche sind widerlich, erinnere ich mich an den Satz, der mir stets zu denken gab und den ich bis dahin nie verstanden hatte. Vielleicht gilt es nur zu anzuerkennen, dass Geschichte im Fluss ist, und dass sie keine Kanten hat. Die Tage in dem neuen, alten Hotel Marina Lučica rufen eine lange vergessene Erzählform in Erinnerung, sie heisst: Es wird einmal.
Die Ausstellung „Hotel Marina Lučica“ von Aleksandra Domanović fand im Art Space Pythagorion auf Samos statt.
Timo Feldhaus ist Autor und Spike-Redakteur. Er lebt in Berlin.