„Mach Mensch!“
In der ersten Wiener Arbeit des Performerduos SIGNA bevölkert eine Gemeinschaft von Trans-Species über Wochen ein Gebäude. Klaus Speidel besucht die verstörende tierische Parallelwelt, wird oft angeknurrt und abgeliebelt, und findet inmitten eines menschlichen Rudels Hunde eine Modell-Narration für das 21. Jahrhundert.
Wenn man für „Aufführungen“ nicht mehr unbedingt „ins Theater“ geht, sondern diese in gewöhnlichen Häusern stattfinden; man „Stücke“ unter Umständen zu jeder Tageszeit besuchen kann und wenn „Zuschauer“ sie nicht nur „anschauen“, sondern handelnd in sie eingreifen – dann spricht man seit einiger Zeit vom Immersiven Theater.
Aus rein praktischen Gründen mag das auch seine Berechtigung haben. Allerdings scheint der Begriff den Kern der Sache gleichzeitig weit zu verfehlen. Denn wenn es keine Bühne, keine stringente Erzählung und keine vorab fixierte, wiederholbare Abfolge von Ereignissen mehr gibt, wenn sich Besucher frei zwischen Räumen bewegen können, die nichts von einem etwaigen Zuschauerraum trennt, ist dann die Begrifflichkeit des Theaters überhaupt noch tragfähig?
„Us Dogs/ Wir Hunde“ entwirft eine fiktionale Welt, in der neben dem Unbehagen im Geschlecht ein Unbehagen in der Gattung (Species Trouble) auftaucht. Demnach gibt es, wie es in dieser fiktionalen Welt heißt, „Hunde, die in einem Menschen Körper gefangen sind“. Das sind Wesen, die zwar als Menschen geboren wurden, sich aber wie Hunde fühlen, sich weitgehend wie solche verhalten und auch dementsprechend behandelt werden wollen. Bezeichnet werden sie als Hundsche. In der Fiktion wird der Besucher zum „Gast“ einer riesigen Wohngemeinschaft, in die sich sieben Familien zurückgezogen haben, um gemeinsam den Anfeindungen der Gesellschaft zu entkommen. Auf drei Stockwerke verteilt, hat jede Bewohnergruppe ihre komplett eingerichtete eigene Wohnung. Die Bestückung der fiktionalen Welt dauerte mehrere Monate. Das Ergebnis ist ein Haus, das ganz so wirkt, als sei es in den 1980er und 1990er Jahren eingerichtet und seitdem wenig verändert worden. Die Einrichtung ist (inklusive Schrankinhalt) komplett, so dass Besucher wirklich frei mit der fiktionalen Welt interagieren können, die, inklusive TV-Shopping-Kanal im ständig laufenden Fernsehen und schmutziger Unterwäsche manchmal erschreckend echt und oft gekonnt peinlich wirkt.
Entwickelt wurde dieses Mammutprojekt, das unter der Bezeichnung Performance-Installation läuft, von Arthur und Signa Köster, kurz SIGNA, für die Wiener Festwochen und von diesen gemeinsam mit dem Wiener Volkstheater produziert. SIGNA, dessen "Söhne & Söhne" bereits 2015 in Hamburg für Furore sorgte, arbeitet seit 2001 mit immersiven, ortsspezifischen Langzeitinstallationen. Bereits im Februar sind SIGNA mit einem 30-Tonner voller Accessoires und Einrichtungsgegenständen in Wien angekommen, um 42 Schauspieler zu casten und bei Hausauflösungen und Flohmärkten das zu suchen, was sie noch brauchten, um das dreistöckige Haus zu einer Welt umzubauen, die es zuvor nie gegeben hat und auch nie wieder geben wird. Manche Ideen, wie der kerkerartig anxiogene Zwinger, den man ausschließlich mit funktionierenden Elektroschockern besuchen darf und in dem rebellische Hundsche in kubikmetergrossen Käfigen sitzen, an deren oft schmerzhafter Abrichtung die Gäste sich aktiv beteiligen, entstanden erst vor Ort.
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Wir treten also ein. Meine Festspielkarte wird noch vor der Tür gegen eine photokopierte Einladung zum Tag der offenen Tür bei Canis Humanus getauscht, so nämlich heißt die fiktionale Gemeinschaft von Menschen und Hundschen. Dann werde ich forsch von einem Zwingerwärter mit einem bellenden Hundsch begrüßt, der die Zähne fletscht und an der Leine zerrt. Bei der Einführung im großen Gemeinschaftsraum wird rotes Sirupwasser in Plastikgläsern serviert und so bereits die prekäre wirtschaftliche Situation einer Gruppe spürbar, die um Verständnis wirbt und (in eigenen Worten) nach „Freunden sucht“. Bei der Vorstellung der Gemeinschaft werden einige Grundregeln erklärt: „Schauen Sie keinem Hundsch direkt in die Augen“, „Ziehen Sie Hundsche nicht an der Leine“, etc. und zuletzt „Sollte Sie eine Begegnung mit einem Hundsch überfordern, sagen Sie „Pfui“ oder „Aus“ oder wenden Sie sich an ein Herrchen.“ Während der Begrüßungszeremonie beginnen die Hundsche bereits die Neuankömmlinge zu beäugen, vorsichtig zu beschnuppern oder zu belecken. Nach den Erläuterungen wird schließlich ein Lied angestimmt, das das Zusammenleben von Mensch und Hundsch besingt und bei dem auch die Hundsche mitjaulen oder singen. Dieser Moment der Harmonie wird jedoch unterbrochen als ein bellender Hundsch in den Saal stürmt und sich auf eine Hundsche wirft. Auch nachdem mühevoll die Ruhe wieder hergestellt wird, bleibt zumindest in den ersten Stunden des Abends ein Gefühl von unterschwelliger Bedrohung spürbar.
Schnell wird klar: Auch wenn verschiedene Indizien die Suche nach einer Story oder einem übergeordneten Sinn möglich machen, geht es hier wohl weniger um das Erzählen einer Geschichte, als um das Eintauchen in eine Welt. Das erklärt, dass manche Besucher schnell und fluchtartig das Weite suchen, aber auch, dass viele immer wiederkommen. Zugänglich ist die Welt jeden Abend von 19 bis 24 Uhr. Ich selbst habe an zwei Abenden insgesamt 10 Stunden im Haus verbracht und ein Besucher erzählte mir, dass er nach seinem ersten Besuch Karten für elf weitere Termine gekauft hat. Damit wird er bis Mitte Juni 60 Stunden bei Canis Humanus verbracht haben. Und „Us Dogs“ sicher nicht mehr als Stück wahrnehmen, sondern als alternativer Lebensraum, von dem er ein Teil geworden ist. Schon als ich das zweite Mal da war, kam dieser Besucher in vielen Erzählungen vor. Diese intensive Immersion ist für SIGNA nichts Ungewöhnliches. Wie mir die Gründer erzählen, waren bei dem Stück "Salò", das 2010 wochenlang durchlief, und die Welt aus Pasolinis gleichnamigem Film nach Kopenhagen holte, manche Besucher jeden Tag da, vor der Arbeit, dann wieder nach der Arbeit und bis spät in die Nacht.
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Bei „Us Dogs“ führt das Verhältnis von 42 Schauspielern zu 75 Besuchern dazu, dass ich trotz des relativ großen Hauses in den zweimal fünf Stunden meiner Anwesenheit selten allein bin. Meist bin ich dabei nicht Zuschauer, sondern Akteur. Alles ist (un)angenehm persönlich. Da wir als Gäste die Wohnungen besuchen, beginnt jede Begegnung mit einer kleinen Vorstellungsrunde. Dann dürfen wir Fragen stellen, über das Leben als oder mit Hundsch. Und auch wenn ich vermute, dass bestimmte Bewohner unterschiedliche Aspekte der erzählten Welt vermitteln und bestimmte Bemerkungen oder Verhaltensweisen einem Skript entsprechen, das wiederholbar ist, kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, sie beträfen mich persönlich. „Du siehst traurig aus. Bist du traurig, Klaus?“ oder „Ich fühle mich in meinem Körper unwohl. Fühlst Du Dich in Deinem Körper unwohl, Klaus?“ sind für mich nicht nur Sätze, die verschiedene Schauspieler sprechen, sondern Fragen, die Mon Amie, Coco oder Bello mir persönlich stellen und auf die ich überraschend ehrlich antworte.
Als eine Besucherin die sexistische Schürze eines weiblichen Hundsch kritisiert, bricht Sweety in echte Tränen aus und Wieland Kalthof, ihr Herrchen, hat größte Schwierigkeiten, sie zu beruhigen. Der Besucherin ist es unangenehm. Mir auch. Wir entdecken eine Welt, in der Regeln gelten, die uns erst dann auffallen, wenn wir sie nichtsahnend übertreten. So muss es Ethnologen gehen, die neue Gesellschaften erkunden. Immer wieder kommt es zu Peinlichkeiten. Zu Beginn frage ich mich ständig, was von mir erwartet wird. Soll ich für ihn einstehen, wenn das schwäbische Frauchen sagt, Nero, der dunkelhäutige Hundsch ihrer Freundin, stänke und hätte eine hässliche Hautfarbe? Soll ich etwas sagen, wenn Dorota Menckhaus, die über die Beziehung Ihres Mannes zu seinem Hundsch Bello schimpft, mit dem er sein Bett teilt, ebendiesen anspuckt, weil er mir ungefragt Schnaps serviert, den sie sonst verkauft? Soll ich also eine unangenehme Situation riskieren oder kuschen, indem ich mir den fiktionalen Kontext der Äußerungen und Handlungen in Erinnerung rufe?
Wie durch fiktionskonforme Ahndung von Regelverstößen, werden auch durch die Sprachspiele und Handlungen Verhaltensnormen der Gemeinschaft vermittelt. Als Besucher lernt man so gleichsam die Sprache der fiktionalen Welt. So wird beispielsweise immer wieder die unterschiedlich entwickelte Fähigkeit der Hundsche thematisiert, sich auf den Befehl „Mach Mensch“ hin aufzurichten und sich menschlich zu verhalten. Wenn sie es gut machen, werden sie zu Belohnung „abgeliebelt" und bekommen ein Leckerli. Und wenn ich im richtigen Moment ablieble oder ein Leckerli verteile, werde auch ich gelobt.
Aber wer wird hier wirklich dressiert?
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Wie fiktionale sind auch unsere Welten stark dadurch determiniert, was in ihnen ereignishaft bzw. erzählenswert ist. Auf den Boden zu pinkeln, die Hände der Besucher abzuschlecken, seine Geschlechtsteile an ihren Beinen zu reiben oder Mülleimer umzuwerfen und deren Inhalt zu fressen, ist in der Welt von Canis Humanus nur bedingt ereignishaft und damit erzählenswert. Aber dass ein Besucher regelmäßig Kuchen mitbringt oder einen Hundsch unsittlich angefasst hat und letztlich das Haus verlassen musste, wird immer wieder erwähnt.
Die Tatsache, dass man diese Welt nicht mit einem Avatar begeht, führt zu einer ungewöhnlich starken Durchdringung von Fiktion und Realität. Ich sehe kein Stück, sondern habe persönliche Begegnungen und mache Erfahrungen, die real sind, auch wenn sie im Rahmen einer Fiktion stattfinden.
Die Erkundung alternativer Lebenswelten, wie „Us Dogs“ sie möglich macht, scheint ein wesentlicher Aspekt der Narration im 21. Jahrhundert zu sein. Was Gérard Genette als Diegese bezeichnet hat, die erzählte Welt nämlich, die im traditionellen Roman nur mitbeschrieben wird, während sich die eigentliche Geschichte entfaltet, gewinnt dabei zunehmend an Autonomie. Die Storyline, die die Godards dieser Welt längst verdammt haben, wird dabei wirklich zu einer künstlerischen Nebensache, ersetzt durch Fiktionen, die mit minimaler Narration auskommen. Ähnlich dem Interesse an nichtlinearen aber weltenschaffenden Computerspielen, bei denen das Lösen von Aufgaben hinter der Freude an dem reinen Sein in einer virtuellen Welt zurücktritt. Womöglich zeigt sich in diesen Fiktionen der Wunsch nach neuen alternativen Lebensformen, ob diese nun existieren oder, wie bei „Us Dogs“, nur existieren könnten.
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Klaus Speidel ist Philosoph, Kunstkritiker und Kurator. Er hat in München und Paris Philosophie und Kunstgeschichte studiert. Seit Oktober 2015 leitet er das Projekt „Towards an experimental narratology of the image“ im Labor für empirische Bildwissenschaft an der Universität Wien.
Am Samstag, 18.06.16, wird SIGNAs „Us Dogs/ Wir Hunde“ zum letzen Mal aufgeführt. Alle Infos hier.
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